Interview mit Janina Stenzel
zum Raum der Stille

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Was ist ein Raum der Stille oder Auszeitraum?

Ein Raum der Stille ist ein Ruhe- und Rückzugsort, den es immer häufiger in Schulen, Hochschulen, Behörden und Unternehmen gibt. Es ist ein Meditationsraum, ein stiller Raum, in dem man eine Auszeit von der Alltagshektik nehmen kann. Besonders wichtig ist ein solcher Raum im Rahmen von Inklusionskonzepten. Etwa Hochsensible bedürfen solcher Auszeiträume.

Janina Stenzel ist philosophische Beraterin bei Denkpuls und Religionslehrerin an der St.-Ursula-Schule in Lüneburg. Dort ist sie Beauftragte für den Raum der Stille. In unserem Expertengespräch beantwortet sie die wichtigsten Fragen zum Thema Ruheraum.

Das Interview führte Julia Tiernan im Jahr 2017 im Rahmen ihrer Masterarbeit. Die Arbeit hatte den Titel ,,Ruhe- und Rückzugsräume für die Gesundheitsförderung in Bildungseinrichtungen – ein Vergleich von Erholungsräumen oder geschützten Lernbereichen an Schulen und Hochschulen im Kontext von lnklusion“.

Das Interview veröffentlichen wir mit der freundlichen Genehmigung von Julia Tiernan. Den Text haben wir nicht verändert, lediglich einige Tippfehler beseitigt. Die Fettmarkierungen ergänzten wir, um den Text schneller lesbar und besser durchsuchbar zu machen.

Expertengespräch mit Janina Stenzel

Könnten Sie sich bitte kurz vorstellen und mir Ihre beruflichen Tätigkeiten insbesondere als Beauftragte für den Raum der Stille schildern?

Seit 1999 arbeite ich an der St.-Ursula-Schule Lüneburg, einer katholischen Grundschule. Das Fach Religion studierte ich, weil ich die spirituelle Entwicklung von Menschen als Grundlage für alle anderen Reifungsprozesse des Menschen sehe. Aus der gleichen Motivation heraus war ich mehrere Jahre Fachseminarleiterin für das Fach Religion. Ich absolvierte eine Zusatzausbildung in „Christlicher Gestaltpädagogik nach Albert Höfer“ und eine Ausbildung in „Wertorientierter Persönlichkeitsbildung“ (WOP©), nach Uwe Böschemeyer.

Durch die eigene Praxis der Mediation kenne ich die Wirkung von Stille und weiß inzwischen auch, wie ich Menschen an diese Erfahrungen heranführen kann. Offiziell „beauftragt“ wurde ich nie, aber ich habe mich sehr für die Einrichtung des Raumes eingesetzt, als 2008 ein Neubau unserer Schule beschlossen wurde. Ich prägte das Konzept seiner Nutzung stark mit.

Viermal in der Woche biete ich im Wechsel mit einer Kollegin in der 25-minütigen „großen“ Pause die Öffnung des Raumes an. Die Menschen werden in dem Raum von mir verbal auf die Atmosphäre dort eingestimmt und ich moderiere auch eine sanfte Überleitung zurück zum Alltag. Außerdem halte ich die Einrichtung dort in Ordnung, wasche Kissen und Decken, fülle das Brunnenwasser auf, gieße den Baum, richte manchmal eine Mitte her, pflege eine kleine CD-Sammlung, kümmere mich darum, dass die Technik (Musik und Licht) funktioniert.

Warum gibt es an Ihrer Schule einen Raum der Stille? Welchem Zweck dient dieser Raum?

Die Stille ist der Ort, wo ein Mensch sich selbst begegnen kann. Nur wenige Menschen haben Erfahrung damit und die meisten vermeiden die Stille im Alltag. Kinder bekommen selten vorgelebt, dass Stille ihren Raum im Alltag hat. Der Religionspädagoge Hubertus Halbfas macht darauf aufmerksam, dass Spiritualität der Kern jeder Religion ist und dass Stille die äußere Voraussetzung ist, um einen authentischen Zugang zu allen Seins-Fragen zu finden. Diese Seins-Fragen sind es, die uns Menschen wiederum zu spirituellen, religiösen, mystischen Erfahrungen führen.

Die St.-Ursula-Schule ist zwar eine städtische Grundschule, aber sie ist vorwiegend für katholische Kinder reserviert. Es gibt eine starke Anbindung an die katholische Kirche vor Ort und die Haltung des Kollegiums ist von einem Menschenbild geprägt, das sich aus christlichen Werten ableitet. Konsequenterweise sehen wir die religiöse Entwicklung von Menschen als einen Teil ihrer Persönlichkeitsentwicklung. Wir sehen es als unseren Auftrag, diese so ganzheitlich wie möglich zu fördern.

Die Vorgaben für den Religionsunterricht (Kerncurriculum) sehen es vor, die Kinder religionsmündig zu machen und sie an religiöse Erfahrungen heranzuführen. Dies kann man natürlich tun, indem man Riten und Gebete einübt. Der innere Sinn solcher Handlungen erschließt sich aber nicht durch deren äußerliche Imitation. Der innere Kern jeder Religion erschließt sich nur durch das eigene aktive Suchen. Die Stille steht immer am Anfang dieser aktiven Suche.

Wie wird dieser Raum genutzt und wer nutzt diesen Raum?

Der Raum wird von allen Menschen genutzt, die Stille suchen. Viermal wöchentlich steht er mit einer Betreuung in den großen Pausen zur Verfügung. Der Raum wird dann am Anfang der Pause geöffnet. Wer ihn betritt, verpflichtet sich dazu, die Stille bis zum Ende der Pause einzuhalten. Es kommen Kinder aus allen Klassenstufen, jeden Geschlechts und jeden Temperaments, um dieses freiwillige Angebot zu nutzen. Erwachsene sind eher selten dabei. Für bestimmte Unterrichtssequenzen wird der Raum manchmal von der ganzen Klasse aufgesucht. Hier gilt aber auch das Prinzip der Freiwilligkeit: Wer sich an das Gebot der Stille nicht halten kann oder will, wird nicht dazu gezwungen. Allerdings muss er die Stille für andere wahren und sich dann in einem alternativen Raum aufhalten.

Der Stille-Rahmen eignet sich für bestimmte Sequenzen des Religionsunterrichts. Aber auch hier gilt: Wer die Stille selbst nicht achtet, wird nicht dazu gezwungen. Es widerspricht der Atmosphäre des Raumes, Druck auszuüben. Es finden auch AGs in der Schulzeit oder während der Ganztagsbetreuung statt, die den Raum der Stille nutzen (zum Beispiel: autogenes Training, Traumreisen, Labyrinthe entdecken).

Um die Stille konsequent zu wahren, wird der Raum niemals den Kindern allein ohne Aufsicht überlassen. Der Raum ist auch ausdrücklich nicht als Pausenraum oder Leseraum ausgewiesen, da „Stille“ nicht „leise“ bedeutet, sondern die Reduzierung von Input auf ein Minimum. Der Raum ist nur sehr minimalistisch eingerichtet und enthält keine Bilder. Für die gewünschte Atmosphäre gibt es einen Brunnen mit einem naturbelassenen Quellstein, einen Baum und eine gute Stereoanlage. Der Boden besteht aus Parkett. Als Sitzgelegenheiten gibt es Kissen und einfache Fleece-Decken.

Häufig erreichen uns Anfragen von Menschen, die in diesem Raum Kurse anbieten wollen. Der Raum scheint ihnen für Yoga, Paartherapie oder andere Achtsamkeitsübungen geeignet zu sein. Diese Art der Nutzung wäre aber destruktiv für unsere Absicht: Dieser Raum enthält nur Stille, diese ist für jeden kostenlos und ohne Vorbedingung zu bekommen. Man kann diese Stille nicht verkaufen. Genauso wenig soll die Stille eine Bühne sein, auf der man seine Vermittlungsabsicht besonders effektvoll zur Geltung bringen kann.

Der Raum ist „still“, weil er ohne Botschaft ist und diese Stille ist ein filigranes Konstrukt, das durch kommerzielle Absichten leicht zerstört werden kann. Hochsensible Menschen spüren genau, ob die Stille echt und bedingungslos ist oder ob sie von der Willkür einiger Menschen abhängt, die die Autorität besitzen, die Funktion des Raumes ständig neu zu bestimmen. Damit Hochsensible an ihr Potenzial herankommen, müssen sie ihrer Umgebung absolut vertrauen können. Der Raum der Stille muss daher konsequent „sauber“ bleiben; absichtsfrei und bedingungslos.

Ihre Schule befindet sich in einem Neubau. Wurde der Raum der Stille von vornherein als notwendige räumliche Unterstützung im Schulalltag mit geplant? Wer war bei diesen Planungen beteiligt?

Offiziell hatte von den Nutzern der Schule niemand bei der Planung des Neubaus mitzureden. Die Stadt Lüneburg war der Bauherr und es gab gewisse Normen, die für alle städtischen Schulen galten. Netterweise wurden unsere Wünsche und Vorstellungen dennoch gehört. Es gründete sich eine Arbeitsgruppe „Bau-Ausschuss“, die aus Lehrern und Eltern bestand. Aus den Erfahrungen mit dem Altbau wurden dann Notwendigkeiten für den Neubau abgeleitet. Wir hatten schon seit einigen Jahren ein Konzept, das möglichst viel selbstorganisiertes Lernen berücksichtigte. Dazu gehörte auch, dass bestimmte Grundbedürfnisse der Kinder erfüllbar sein sollten. Das Konzept war aber aufgrund der Enge des Altbaus nur teilweise umsetzbar. Wir wollten, dass die neue Schule zu unserem pädagogischen Konzept passt und nicht das Konzept sich an die räumlichen Gegebenheiten anpasst.

Einen Raum der Stille vermissten wir schon lange, aber wir stießen bei der Stadt auf taube Ohren. Man wollte die St.-Ursula-Schule nicht mit Vorteilen gegenüber anderen Schulen ausstatten. Glücklicherweise stand das alte Schulgebäude auf einem Grundstück, das die katholische Kirche ursprünglich für den Bau einer Kirche erworben hatte. Aus dem damaligen Pfarrhaus war Stück für Stück die erste katholische Schule erwachsen. Da dieses Grundstück nun an die Stadt zurückverkauft wurde, wurde eine gewisse Summe flüssig, die die Kirche der Schule für den Bau des Raums zu Verfügung stellte.

Es gibt keine rechtliche Grundlage für Ruhe- und Rückzugsräume. Wie hat die Schulgemeinschaft diesen Raum dennoch einrichten können? Wie wurde die Nachfrage nach einem Ruhe- und Rückzugsraum von dem Schulträger bewertet und finanziell unterstützt?

Ich glaube, das habe ich eben schon beantwortet.

Welche Bedeutung bekommt der Ruheraum in Bildungseinrichtungen im Kontext von Inklusion?

Inklusion bedeutet, dass alle Menschen alle ihre Besonderheiten zum gemeinsamen Gelingen eines größeren Kontextes einbringen. Das ist das Gegenteil davon, alle auf einen gemeinsamen kleinen Nenner zu bringen. Die St.-Ursula-Schule war einige Jahre lang Impuls-Schule der Karg-Stiftung, die sich für die Förderung Hochbegabter einsetzt. Durch die intensive Auseinandersetzung mit dieser Thematik definieren wir „Hochbegabung“ nicht allein als „Erbringung überdurchschnittlicher Leistung“, sondern als die Fähigkeit, das persönliche Interessenprofil zu entfalten. So gesehen bedeutet „Inklusion“, dass jedes Kind hochbegabt ist. Eine These, die man auch bei Gerald Hüter findet.

Es gibt Kinder, die feinfühlig und zurückhaltend sind, deren herausragende Begabung darin besteht, dem Kontakt zu ihrer Seele oberste Priorität zu geben, und dafür auf Anpassungsleistungen verzichten. Man findet in den letzten zehn Jahren viel Literatur zum Thema „Hochsensibilität“ oder „Hochsensitivität“. Für diese Kinder sind die Pausen auf dem Schulhof oder in der Bibliothek keine Regenerationszeiten, weil sie der Lärm und die ständige Auseinandersetzung mit den Themen und Energien anderer Menschen belasten kann, was zu Erschöpfung und Depressionen führen kann. Für hochsensible Kinder ist ein Raum der Stille genauso wichtig wie für Kinder mit Legasthenie ein auf sie zugeschnittenes Programm des Schriftspracherwerbs.

Natürlich ist das nicht nur allein der Raum im Sinne von „Zimmer“. Es erfordert einen bewussten Umgang damit, eine Anleitung und eine Begleitung. Ich durfte erleben, wie diese Kinder ihre besondere Begabung entspannter und selbstbewusster aus dem Raum heraus in die Schule hineintrugen und somit auf die gesamte Schulgemeinschaft ausgleichend wirkten.

Ist der Bedarf nach Ruheräumen ausschließlich der inklusiven Beschulung zuzuschreiben oder gibt es weitere Gründe für die Einrichtung von Ruheräumen? Welche?

Ruhe und Stille sind ein menschliches Urbedürfnis. Es sollte genauso anerkannt sein wie Bewegung, intellektuelle und ästhetische Herausforderungen. Spiritualität ist ein menschliches Urbedürfnis, aber sie kann nur im Zusammenhang mit intrinsisch gestellten Seins-Fragen entfaltet werden. Für diese Fragen muss es einen zeitlichen und physischen Raum geben, der sich nicht mit eigenen Fragen und Impulsen aufdrängt. Darum darf ein Raum der Stille auch keine religiösen Symbole oder Botschaften enthalten oder als „Gottesdienstraum“ benutzt werden. Die Glaubensgemeinschaften halten hierfür wunderschöne Räume bereit.

Die Stille mit anderen Menschen zu teilen ist eine sehr berührende Erfahrung. Die heilsame und ausgleichende Erfahrung einer von mehreren Menschen geteilten Stille beschränkt sich nicht nur auf Kinder. In diesem Raum gibt es nicht mehr „Schüler und Lehrer“, sondern nur noch „Menschen“. Menschen, die alle Schüler der Stille sind. Eine wichtige Grunderfahrung für einen achtsamen Umgang miteinander, für die Grundlage von Empathie und Demokratie. Auch Pädagogen brauchen diese Erfahrung! Nicht nur ihre Schützlinge!

Was benötigt eine Schulgemeinschaft, damit so ein Raum eingerichtet werden kann und was muss bei der Planung solcher Räumlichkeiten unbedingt berücksichtigt werden?

Es muss mindestens eine Person geben, die selbst Erfahrung mit Meditation und Stille hat, und diese Person sollte von Anfang an in die Planung einbezogen werden. Wenn über den Raum und seine Ausstattung per Mehrheitsentscheidung verhandelt wird, kommt leider ein unbrauchbarer Kompromiss dabei heraus. Man würde ein Schwimmbecken auch nicht von Religionslehrerinnen planen lassen, sondern den erfahrenen Sport-Kollegen vertrauen.

Das Gleiche gilt für die Erstellung eines Konzepts, das die Nutzungsweise verbindlich für alle festlegt. Dieses Konzept muss es vor der architektonischen Planung geben. Für den Bauherrn oder den Architekten müssen die Anforderungen an den Raum so genau wie möglich aufgelistet werden, denn Architekten haben so gut wie keine Erfahrungen mit solchen Räumen: Lage des Raums im Gebäude, Licht-Konzept, Beschaffung des Bodens, Form der Grundfläche, Lage des Raums im Verhältnis zum Grundstück, technische Ausstattung, geplante Möblierung, Notausgang, Verdunkelungsmöglichkeiten, Heizmöglichkeiten.

Es kann sehr nützlich sein, einen Künstler einzubeziehen, wenn man zum Beispiel einen Brunnen, ein Blumenfenster oder Ähnliches integrieren möchte. Da so ein Impuls sehr unaufdringlich sein soll und nur die Atmosphäre der Stille und Sammlung unterstützen soll, müssen Raum und Objekt von vorneherein aufeinander abgestimmt sein.

Vielen Dank für Ihre Unterstützung!

Beratung, Schulung, Workshop zum Raum der Stille

Die Denkpuls-Beraterin Janina Stenzel hat im Laufe der Jahre viele Erfahrungen mit dem Meditationsraum in ihrer Schule gesammelt. Sie teilt gerne mit euch und dir. Sie stellt sich und ihre Erfahrung gern zur Verfügung für:

  • eine individuelle Beratung eurer Schule, Hochschule (Fachhochschule, Universität), Behörde oder eures Unternehmens,
  • einen Workshop, ein Seminar,
  • einen Vortrag etc.
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